Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

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An einem Galgen oben auf der Stadtmauer baumelt ein Gehängter im Wind. Eine Mahnung für die Bösen. "Mord kann nur durch Tod gesühnt werden", hat Konfuzius gelehrt.

Küfu

In Küfu hält der Zug nur zwei Minuten. Vom Bahnsteig ruft Tom seinem Vater zu: "Treffpunkt Peking!" und "auf ein heiles Wiedersehen!" Dann pufft der Expreßzug weiter. Ohne alles Gepäck kommt Tom sich sehr leicht vor. "Du bist unser Mann!" begrüßt ihn plötzlich auf Englisch ein Chinese in europäischer Kleidung und schüttelt ihm die Hand. Vier andere, gleichgekleidete, junge Chinesen tun ein gleiches. "Wir sind Auslandschinesen, Studenten aus Singapore. Wir streiten uns schon seit Jahren um die Frage, ob die Lehren des Konfuzius noch in unsere Zeit passen oder nicht. Dies ist unser Freund Sun Lo. Er versteht auch Deutsch. Er hat uns gestern abend übersetzt, was du mit deinem Vater im Speisewagen gesprochen hast. Du gehst deine eigenen Wege. Konfuzius aber hat gelehrt: ,Der Vater hat unbeschränkte Gewalt über seine Kinder. Ein Sohn lebt in erster Linie für seine Eltern und zeigt ihnen Ehrfurcht. Er darf nicht mit ihnen streiten. Selbst wenn die Eltern ihn schlecht behandeln, darf er nicht murren!" "Tom hat ja auch keine Melonen ohne Superoxyd gegessen", ruft Sun Lo dazwischen, "also hat er des Konfuzius Wort befolgt, daß die Söhne ihren Körper, den sie den Eltern verdanken, unversehrt halten sollen." - "Aber Konfuzius hat auch gesagt: ,Die Söhne sollen bei Lebzeiten ihrer Eltern keine weiten Reisen machen, außer wenn der Kaiser es befiehlt', und danach hat Tom sich nicht gerichtet!" schließt Kwok Song, der Älteste der Gruppe, die Unterhaltung. "Wir wollen uns erst mal auf den Weg machen und Tom bitten, uns zu begleiten." Nur Freddy, der Jüngste, fährt Sun Lo noch einmal an:

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"Wenn wir Jungen in China immer nur das tun, was die Alten wollen, wird China nie ein modernes Land werden. Ich hasse die 300 Hauptregeln und 3000 Nebenregeln der konfuzianischen Lehre." Küfu ist ein kleines ummauertes Landstädtchen in der Schantungprovinz. Es liegt zehn Kilometer vom Bahnhof entfernt. Als deutsche Ingenieure um 1910 die Bahn bauten, durfte die Linie nicht bis an den heiligen Ort herangeführt werden. Die jungen Herren mieten sich zwei zweirädrige Maultierkarren und setzen sich mit hängenden Beinen auf die Deichsel. Nur Freddy muß unter dem engen Verdeck auf der ungefederten Achse sitzen. Denn Konfuzius hat auch gesagt, daß der jüngere Freund dem älteren Ehrerbietung schuldig ist. Der Fuhrmann geht auf dem staubigen, holperigen Landweg zu Fuß nebenher. Tom sitzt bei Sun Lo. Der nimmt das Gespräch vom Bahnhof wieder auf. "Wenn wir Chinesen uns nicht zwei Jahrtausende lang an die Lehren des Konfuzius gehalten hätten, dann wäre unser Reich ebenso wie die andern großen Reiche des Altertums untergegangen.

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China hat immer viele ehrfürchtige Söhne gehabt, die ihren Eltern und dem Reiche dienten. Jeder Junge, ob arm oder reich, konnte zu den höchsten Ämtern aufsteigen, wenn er die Lehren der Alten erlernte und befolgte und die Prüfungen bestand. Jeder Vater strebte danach, möglichst viele Söhne zu haben, denn nur männliche Nachkommen können die Ahnenopfer darbringen. So sagt Konfuzius: ,Solange die Eltern leben, müssen die Söhne ihnen nach der Sitte dienen. Wenn die Eltern gestorben sind, müssen die Söhne sie nach der Sitte begraben, 27 Monate um sie trauern und ihnen nach der Sitte opfern, solange sie leben." - "Bist du denn auch bereit, dir deine Frau von deinen Eltern aussuchen zu lassen?" fragt Tom. Darauf gibt Sun Lo keine Antwort mehr. Der Karren knarrt über eine Lotosbrücke in das Stadttor hinein. Konfuziustempel gibt es in mehr als 1500 chinesischen

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