Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

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Das Geheimnis des Gelben Lama

Mitternachtsstunde. Der Bahnhof von Taian liegt ebenso wie die Stadt in tiefem Schlaf. Mit bleiernen Beinen sitzt Tom auf einer Bank des ländlichen Bahnsteigs und blinzelt den Mond an. Zweimal sind ihm die Augen schon zugefallen. Tom hat Angst, daß er einschläft und den Zug verpaßt. Außer ihm scheint zu dieser Stunde niemand mitfahren zu wollen. Doch da kommen schlürfende Schritte auf Tom zu. Ein Mann mit einer Papierlaterne. Sein gelbes Gewand leuchtet im Laternenschein golden wie der Mond. Ein Lama, ein buddhistischer Mönch aus Tibet? Er kommt so dicht an Tom heran, daß jeder den andern atmen hört. Maskenhaft wirkt das dunkelhäutige, zerfurchte Gesicht unter dem hohen gelben Hut. Tom will einen Schritt zurücktreten, aber er ist von dem Blick des Lamas wie hypnotisiert. Fest hält der Fremde seinen Arm. "Du, fremder Jüngling, sei ein Werkzeug des Erhabenen! Tibet, das Land der Gelbblüte, ist in Gefahr. Die neuen Herren Chinas wollen es verderben." Er läßt Tom los und zieht den gelben Hut von seinem glattrasierten Schädel. "Nimm diesen Hut! Trage ihn heimlich zum Yung Ho Kung, dem Tempel der Lamas in Peking! Der Lohn des Erhabenen wird dir gewiß sein, wenn du den Auftrag erfüllst. Doppeltes Unheil aber wird über dich kommen, wenn du nicht heimlich zu Werke gehst. Tsong Kha=pa wird dich verdammen, und die Häscher Mao Tse=tungs werden dich ins Gefängnis werfen. Dieses Amulett wird dich schützen." Seinem Ärmel entnimmt er eine kleine vergoldete Buddhafigur aus Ton und steckt sie in den Hut. "Hier hast du Papier, beides zu verbergen. Da braust der Zug heran. Der Lama hilft Tom auf das hohe Trittbrett eines Abteils. "Es ist in deine Hand gegeben, ob das Erbe Buddhas in Tibet verlorengeht oder nicht." Tom ist wie betäubt. Er verbirgt Hut und Papier in seiner Jacke, bevor der verschlafen dreinblickende Schlafwagenboy kommt und ihm sein Bett anweist. Im Nebenbett schnarcht einer. Tom steckt die Jacke mit ihrem Inhalt unter sein Kopfkissen. Trotz seiner Müdigkeit kann er lange nicht schlafen. Soll er den Hut kurzerhand aus dem Fenster werfen? Am besten gleich in den Hwangho, wenn der Zug über die 1300 Meter lange Brücke rollt? Er kommt zu keinem Entschluß. Erst hinter Tientsin erwacht er. Zweieinhalb Stunden später ist der Zug in Peking.

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Peking

Die gewaltige Kaiserstadt des Nordens, jetzt Sitz der Regierung Mao Tse=tungs, hat mächtigere Mauern und Türme als Nanking. Der Kaiserpalast in der bis 1911 "verbotenen Stadt" ist gut erhalten. In Peking gibt es Seen und Pagoden und breite Straßen wie in Hangtschau, mehr Tempel und Theater als in Hongkong, Nanking und Sutschau zusammengenommen, enge Handwerkerstraßen wie in Kanton und einen Straßenverkehr mit Trägern und Rikschas, Einrad= Esel= und Maultierkarren, Autobussen, Straßenbahnen und Luxuslimousinen wie nur irgendwo in China. Über dem allen aber wölbt sich hier ein strahlend blauer Himmel, und die Kamelkarawanen der nördlichen Wüste Gobi ziehen durch die staubigen Straßen der Stadt dahin. Peking ist ein Abbild des ganzen, großen China und doch eine einzigartige Stadt, einzigartig in China und in der ganzen Welt. Die Bahn ist bis mitten in die Stadt hineingeführt. Toms erster Blick nach der Durchfahrt durch die Südmauer fällt auf das dreigestufte blauglänzende Dach des Himmelsaltars, der in jedem Erdkundebuch abgebildet ist. Doch von all den Palästen und Pagoden, Toren und Tempeln interessiert Tom jetzt nur eins: der Lamatempel im äußersten Nordosten der Stadt. Hat nicht der Polizist an der Sperre ihn mißtrauisch angesehen.

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