Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

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Seite 26

Bei Tschiutschau überquert die Bahn auf einer langen Brücke den Nordfluß selbst, um sich fortan am rechten Ufer entlangzuwinden. Über die Brücke fährt der Zug im Schneckentempo. Ein Bogenstück der Betonkonstruktion fehlt. Es ist durch zitternde Holzgerüste ersetzt, an denen noch Hunderte von Chinesen arbeiten. "In Deutschland wäre eine solche Brücke polizeilich gesperrt", meint Tom. Wang atmet auf, als sie hinüber sind. Bei Locktschong hängen die kahlen, dunklen Felsen auf beiden Ufern in den schmalen, reißenden Fluß. "So sieht unser Rhein bei Bacharach aus", sagt Tom, "nur fehlen hier die Weinberge und Burgen." Wang studiert die Karte. "Nun kommen wir bald an den Tschinglingpaß, der die Grenze zwischen den Provinzen Kwangtung und Hunan bildet. Die Provinz Hunan wird von den Chinesen die ,Reisschale Chinas' genannt. In Hunan wächst mehr Reis als in irgendeiner unserer 31 Provinzen." Tom ist müde und liegt fächelnd auf seinem Bett. Zehn Stunden Fahrt und immer noch dieselbe Provinz! Langsam geht es ihm ein, wie groß China ist. "Eine Provinz in China, das ist wie ein Land in Europa, wie Deutschland, Frankreich, England", meint er. Er fragt Wang, was die Provinznamen bedeuten, Kwangtung und Kwangsi, Hunan und Hupeh. "In diesen Provinznamen stecken die vier wichtigsten chinesischen Wörter, tung Ost, si = West, nan = Süden und peh = Norden. Mit diesen vier Wörtern oder Silben kannst du Tausende chinesischen Ortsnamen erklären. Kwang heißt breit, und hu heißt See. Kwangtung ist die breite östliche und Kwangsi die breite westliche Provinz. Hunan liegt südlich von einem großen See und Hupeh nördlich davon. Es gibt auch die Provinzen Honan und Hopeh. Ein ho ist ein Fluß. Honan liegt südlich und Hopeh nördlich von dem Gelben Fluß, den ihr in Deutschland Hoangho nennt.

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Wir Chinesen sagen Hwangho." Bis zum Tschinglingpaß stöhnt die Lokomotive "Kann's nicht schaffen, kann's nicht schaffen." Danach geht es mit "Komm mit, komm mit!" in das Laihotal in die Provinz Hunan hinein. Wieder einmal sieht Tom eine blutrote Sonnenscheibe hinter Bergen und fernen Pagoden versinken. Der Teeboy füllt neue Teeblätter und heißes Wasser in ihre Tassen und dreht das elektrische Licht an. Die Jungen essen zu Abend und strecken sich dann auf ihren Betten. Sie sind noch immer zu zweien im Abteil. Bevor sie einschlafen, verriegeln sie die Abteiltür von innen. Wer etwas von ihnen will, mag klopfen!

Geheimnisvoller Eindringling

Sie haben das Licht brennen lassen, damit es die Moskitos fernhält, die im Dunkeln auch im fahrenden Zug ihre Opfer suchen. Eintönig rattert der Zug dahin. Dann ist plötzlich das Licht aus! Leise öffnet sich die verriegelte Tür und wird ebenso leise wieder geschlossen. Im fahlen Schein des von außen einfallenden Mondlichts erkennen sie einen Mann im Ischang, der schwer atmend mitten zwischen ihren Betten stehenbleibt. Den Jungen schlägt das Herz bis zum Hals. Sie haben beide ihre Hand am Brustbeutel und denken an die Nacht auf der "Suiwo". Der fremde Eindringling steht regungslos. Er atmet noch einmal ganz tief und sagt dann mit gespenstischer Stimme: "U yüo tschu u - yüo hang men - hengschan miaotschien tsang kankan."

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Tom läuft es kalt über den Rücken. Leise wie er kam, verschwindet der Fremdling wieder. Das Licht geht wieder an, und der Riegel ist innen wieder vor der Tür. Tom springt auf und rüttelt die Tür. Sie ist tatsächlich verschlossen! "Hab' ich alleine geträumt, oder hast du es auch mit geträumt?" fragt er Wang. Der lächelt. "Das war eine Botschaft von Hunans heiligem Berg Höngschan." Und dann wiederholt er mit derselben gespenstisehen Stimme die Worte des Fremdlings auf Deutsch: "Wer am fünften Tag des fünften Monats durch das Mondtor des Höngschanberges schaut, der wird auch das Goldstaubland sehen." - Wang glaubt, daß der Eindringling ein Mönch vom Höngschanberge gewesen sei, der auf Wallfahrten die Künste indischer Fakire gelernt hat. "Das Goldstaubland ist Osttibet, und der fünfte Tag des fünften Monats, nach dem altchinesischen Mondkalender gerechnet ist... ,Wang kriegt plötzlich selbst einen Schreck'... ist morgen!" Jetzt kommen sie noch lange nicht zum Schlafen. Wang muß Tom noch vieles erzählen. Von den fünf heiligen Bergen der Buddhisten in China.

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