Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

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Hafen Jokohama - und fast damit zusammengewachsen - die Reichshauptstadt Tokio. Der Hauptbahnhof der Sechsmillionenstadt ist einer der verkehrsreichsten Punkte der Welt, Hier läuft zu jeder Minute des Tages mindestens ein Zug ein oder aus. Auf dem Bahnsteig hat Tom seinen Vater schon erkannt, bevor der Zug hält. Sie sind froh, wieder vereint zu sein und bald auch die Mutter bei sich zu haben. Bevor sie mit der elektrischen Vorortbahn nach Schibuya weiterfahren, werfen sie einen kurzen Blick auf den Platz vor dem Hauptbahnhof. Hier liegen das Geschäftszentrum Marano=utschi und der weite Park des kaiserlichen Palastes unmittelbar nebeneinander. Achtstöckige Betonblocks der Banken, Hotels, Verkehrsunternehmungen und Besatzungsmacht überragen den von Gräbern und Mauern eingehegten einstöckigen Kaiserpalast im altjapanischen Stil. Das Gebiet von Tokio, welches man auch die Stadt der hundert Dörfer genannt hat, zieht sich über eine Fläche hin, die fast dreimal so groß ist wie die von Berlin. Die neue Wohnung der Birkenfeldts in Schibuya liegt ungefähr sechs Kilometer vom Zentrum entfernt am südwestlichen Rande der Stadt. - Wochen vergehen, bis Vater Birkenfeldt mit Toms tatkräftiger Hilfe die Wohnung so eingerichtet hat, daß auch die Mutter sich darin wohl fühlen wird. Vielleicht ist ihr der Sommer in Tokio zu heiß und feucht. Dann mag sie, wie viele andere europäische Einwohner Tokios, in die kühlere Bergwelt von Karuizawa übersiedeln. Tom ist nach seinen Reisen in China an das feuchtheiße Klima gewöhnt. Noch vor der Ankunft der Mutter wird ihm eine Stellung angeboten, wie er sie sich besser nicht hätte träumen können. Ohne Zögern nimmt er sie an. Als Reporter einer namhaften europäischen Nachrichtenagentur kann er an allen wichtigen Begebenheiten der Weltstadt teilnehmen. Das erste ganz große Ereignis seiner Reporterlaufbahn ist die Feier zur Mündigkeitserklärung des achtzehnjährigen japanischen Kronprinzen Akihito und seine feierliche Investitur (Einsegnung) als Thronfolger. Sei 2600 Jahren haben solche Feiern immer nur im engsten Rahmen der kaiserlichen Familie stattgefunden, nur die allerhöchsten Hof= und Regierungsbeamten durften daran teilnehmen. Nun sind erstmalig 322 Gäste zu der feierlichen Zeremonie in den Kaiserpalast eingeladen: japanische Regierungs= und Volksvertreter, fremde Diplomaten und Männer der in= und ausländischen Presse. Einer von ihnen ist Tom. Der mit ihm im gleichen Alter stehende Prinz Akihito wurde im Kaiserpalast in der Nähe des Hauptbahnhofes geboren, aber nach alt japanischer Sitte schon nach seinem 3. Geburtstag von seinen Eltern getrennt und in einem eigenen Palast erzogen. Zu seinem Hofstaat im Prinzenpalast in Schibuya gehörten ein Oberhofmeister, vier Hofmeister, drei Ärzte, drei Leibdiener, elf Mann Leibwache und eine Anzahl von Haus= und Küchenangestellten. Nur einmal jede Woche durfte er seine Eltern im Kaiserpalast besuchen und mit seinem jüngeren Bruder, Prinz Joschi, und seinen Schwestern spielen. Abgesehen von den Hausmädchen gab es in seinem Hofstaat kein weibliches Wesen; keine Frau hatte Einfluß auf seine Erziehung. Alle seine Privatlehrer waren Männer. Der Umsturz in Japan 1945 brachte auch eine Veränderung in sein einsames Leben. Amerikanische Erzieherinnen übernahmen seine Ausbildung in der englischen Sprache, und an je drei Tagen der Woche nimmt er seitdem am Unterricht in einer Abendschule in Tokio teil. In dieser Heimschule teilt er den Schlafraum mit sechzehn anderen Schülern. Er darf sich seine eigenen Freunde wählen und mit ihnen seine Freizeit verbringen. Seine Lieblingsbeschäftigungen sind Reiten, Tennis= und Pingpongspielen, Schwimmen und Schilaufen. Als er zu der Feier der Mündigkeitserklärung vom Prinzenpalast in Schibuya in den Kaiserpalast fährt, in einer schwarzlackierten, mit der goldenen Chrysantheme geschmückten Staatsdroschke, stehen die Einwohner in zehn bis fünfzehn Reihen hintereinander an den Straßen und jubeln ihm lachend und winkend zu. Im Thronsaal, in dem die festlich gekleideten Gäste Aufstellung genommen haben, erscheint zunächst Prinz Akihito in seinem prinzlichen Knabengewand mit der Knabenkrone auf dem Haupt und nimmt auf einem goldgeschmückten Schwarzlackstuhl Platz. Dann treten Kaiser Hirohito und Kaiserin Nagako in ihren Jahrhunderte alten Zeremonialgewändern ein. Der Kaiser nimmt die Knabenkrone von Akihitos Haupt und setzt ihm die Krone des manngewordenen Prinzen auf. Darauf zieht Akihito sich einige Minuten in einem Umkleideraum zurück und nimmt in den Gewändern eines erwachsenen Prinzen wieder auf dem Stuhle Platz. In das weite Seidengewand, das tief herabhängende Kimonoärmel hat, sind goldene Chrysanthemen eingewebt. Die "Krone" ist eine schwarzseidene Kappe mit einem weit nach hinten gebogenen steifen Seidenbandkamm", die von einem "Kinnband", einer weißen Seidenschnur, gehalten wird.

Nun tritt der Kaiser von neuem vor den Kronprinzen hin und überreicht ihm das Schwert des Kronprinzen, das ihn zum Projektor (Beschützer) des Reiches macht. Damit ist er feierlich zum Thronfolger des Reiches bestimmt. Als solcher zeigt er sich auf dem flachen Dach des Palastes dem Volk, das gegen alle Jahrhunderte alte Regeln der Zeremonie in den Palastgarten eingedrungen ist, um ihm zu huldigen. Nicht nur die Einwohner Tokios, das ganze japanische Volk wartet jetzt auf das nächste wichtige Ereignis in Akihitos Leben, seine Vermählung. Wird der Hofrat ihm nach alter Sitte eine Frau bestimmen oder wird er sie sich selbst erwählen? Tom ist der Meinung, Akihito solle sich seine Frau selbst erwählen. Er denkt an die chinesischen Studenten und an ihren Streit um die Lehre des Konfuzius. In wenigen Tagen wird Tom mit Vater und Mutter zusammen wieder in einem Haus wohnen. Er ist glücklich darüber. Denn seine Eltern haben ihm vertrauensvoll immer seine Freiheit gelassen. Und er glaubt, er hat die Freiheit gut genutzt.

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