Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

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Ein Auto in Tibet?

Am Morgen werden sie von einer ganzen Kavalkade chinesischer und tibetanischer Reiter begleitet. An der Jangtsebrücke bei Drubanang steht eine chinesische Grenzburg. Sie war bis vor wenigen Monaten der äußerste Vorposten Chinas gegen Hsi=Tsang, den tibetanischen Teil von Tibet. Die eiserne Hängebrücke gerät in beängstigende Schwingungen, als die Kavalkade hinüberreitet. Tief darunter brausen und schäumen die Wasser des Flusses. Drüben steht tatsächlich ein Auto, ein offener 1,5=t=Lastwagen! Tschitschä, "Gaswagen", nennen die Chinesen das Auto; die Tibetaner haben kein eigenes Wort dafür. Der Abt und ein chinesischer Beamter nehmen neben dem russischen Fahrer Platz. Der Rest der Reisegesellschaft und zehn chinesische Soldaten mit MG.s und MP.s suchen sich hinten auf dem Gepäck einen Platz. In der Morgensonne wird es bald tropisch warm, obgleich die Straße Höhen von 3000 bis 4000 Meter erklimmt. Dorrtsche und Tom sitzen auf Säcken aus Jakhaut, in die gepreßter Tee eingenäht ist. Verglichen mit dem hölzernen Pferdesattel ist das ein angenehmer Sitz. Seine Tibetkarte in der Hand, versucht Tom die Reiseroute auszumachen.

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Aber Tibet ist groß und die Karte klein. Autostraßen sind überhaupt nicht eingezeichnet. Am Bumlapaß erreichen sie einen Punkt, wo drei Riesenflüsse Asiens sich so nahe kommen, daß man sie von einem Flugzeug in großer Höhe gleichzeitig sehen könnte. Durch die wildesten und tiefsten Schluchten der Erde fließen von hier aus der Salwin und der Mekong südwärts nach Burma und Siam, während sich der Jangtse ostwärts nach China wendet. Zwischen den Oberlaufen von Jangtse und Mekong folgt die neue Straße meist dem alten Karawanenweg: über Hochflächen hin, an Berghängen entlang und durch tiefe Schluchten von Nebenflüssen. In Haarnadelkurven windet sich die Straße hinab und hinauf. Aufwärts kocht das Kühlerwasser des Motors. Die geringste Unachtsamkeit des Fahrers bedeutet für ihn und alle Mitreisenden den sicheren Tod. Zur Linken haben sie fast den ganzen Tag Sicht auf eine Kette von Sechstausendern. Siebenmal geht es über Pässe von mehr als viertausend Meter Höhe. Jaktreiber und Teeträger, Lamas, Pilger und Hirten stehen mit weit geöffneten Mündern am Weg. Jaks, Ponnys und Schafe suchen vor dem brummenden Autoungetüm das Weite. Die Soldaten knallen mehrmals hinter einem Bären, einmal auch hinter einem Wolf her. Die gefürchteten Räuberstämme der Gegend scheinen zu wissen, daß dieser Wagen nicht nur unter dem Schutz chinesischer Soldaten steht, sondern auch den Segen des höchsten Lamas hat.

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Zwei Großlamas - Jungen wie Tom

Zwischen Bergriesen und Schluchten, Brücken und Pässen, Sonnenhitze und eisigen Winden hört Tom aufmerksam zu, wie Dorrtsche die Geschichte der beiden Großlamas von Tibet erzählt. "Seitdem Tsongkhapa die Sekte der Gelben Lamas gründete, wird der Priesterstaat Tibet von zwei Großlamas regiert. Der erste, der Dalai Lama, leitet von Lhasa aus die weltlichen Regierungsgeschäfte. Der andere, der Pantschen Lama, ist das Oberhaupt der Kirche und zugleich Abt des Klosters Taschilumpo, das bei Schigatse, 200 Kilometer westlich von Lhasa, liegt. Nach diesem Kloster wird der Pantschen auch Taschi Lama genannt. Gegenwärtig sind beide Großlamas Jungen, ungefähr im selben Alter wie Tom. Der Dalai Lama ist gerade siebzehn, der Pantschen - Taschi - Lama nur vierzehn Jahre alt. Das Amt der Oberlamas wird nicht wie bei Königen vererbt, sie sind ja unverheiratet und haben keine Kinder. Aber sie werden auch nicht wie die römischen Päpste gewählt. Als Anhänger Buddhas glauben die Tibetaner an eine Seelenwanderung. Wenn ein Dalai oder Pantschen Lama stirbt, so fährt seine Seele in ein gerade geborenes Kind hinein.

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Dieses muß dann gesucht und gefunden werden. Das dauert oft jahrelang. Denn Tibet ist groß, fünfmal so groß wie Deutschland, und seine Wege sind weit und beschwerlich. Der XIII. Dalai Lama starb 1933 in Lhasa, sein jetziger Nachfolger wurde erst vier Jahre später in einem Bauernhaus am Kukunorsee in der Provinz Kham gefunden.

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