Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

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Umgebung von Schanghai. 400 Menschen kommen auf den Quadratkilometer! Dreimal im Jahr bringen die Felder eine Ernte hervor, wenn sie genügend gedüngt und bewässert werden. Bei jedem Blick aus dem Fenster sieht Tom Männer und Knaben, die Wasserschöpfräder treten. Bis zum Dunkelwerden hat Tom am Zugfenster gestanden und geschaut. Danach kann er vor Aufregung nicht sitzen. Fast ein Jahr hat er seinen Vater nicht gesehen, und gleich werden sie sich treffen, in fremdem Land. Die Lichterflut der Millionenstadt wird am nördlichen Abendhimmel schon eine Stunde vor ihrer Ankunft sichtbar. Die ersten Wahrzeichen von Schanghai sind die siebenstöckige Lungwhapagode ("die von Blumen überwachsene") und die Zikaweikathedrale, die von französischen Jesuitenmissionaren erbaut wurde. Dunkel heben sich ihre Türme vor dem Lichterschein der Stadt ab. "Von hier bis zum Stadtzentrum zieht sich die Französische Konzession hin", erklärt Wang. "Die Avenue Joffre, die schnurgerade Prachtstraße des französischen Stadtviertels, reicht von hier bis an den Rand der südlichen Chinesenstadt. Sieben Kilometer! Anderthalb Stunden zu laufen, falls du bei der Hitze Lust dazu hast."

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Am Westbahnhof am Jeßfieldpark steigen ein paar Europäer aus, die hier am Westrande der Internationalen Niederlassung ihre Wohnungen haben. Auch Tom drängt mit seinem Koffer zur Wagentür. Wang hält ihn am Arm. "Noch 15 Minuten mußt du dich gedulden .. ." Durch das dunkle Industrieviertel der nordwestlichen Chinesenstadt rollt der Zug endlich in den Nordbahnhof ein. Auf dem Bahnsteig ist entsetzliches Geschrei und Gedränge. Gepäckträger, die ihre Dienste anbieten. Hotelportiers, die freie Zimmer ausrufen. Ein Gewimmel von Chinesen, die ankommende Familienangehörige abholen wollen. Geschiebe und Gestoße. Plötzlich ein Freudenruf von Wang. Seine ganze Familie ist auf dem Bahnsteig! Vater, Mutter, Tante, drei Brüder, eine Schwester, der Chauffeur und ein Hausboy. Alle sind freudig erregt, aber niemand umarmt Wang und niemand schüttelt ihm die Hand. Tom ist verwundert... "Ist Toms Vater nicht da?" fragt Wang. Nein, der mußte gestern zu dringenden geschäftlichen Besprechungen nach Nanking fahren. Tom ist plötzlich ganz traurig. Aber auf dem Bahnhof der Millionenstadt ist dafür kein Platz. Er muß achtgeben, daß er die Familie Wang nicht verliert. Mit dem Gepäck finden sie nicht alle im Familienauto Platz.

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Die beiden jüngeren Brüder, die Schwester und der Boy fahren in einer Taxe hinterher. Tom darf im Familienwagen neben dem Chauffeur sitzen. Das Gewimmel auf den Straßen läßt Tom seine Traurigkeit vergessen. Alle Augenblicke quietschen die Bremsen, daß es ihm kalt über den Rücken läuft. Um Haaresbreite entgehen Fußgänger und Rikschas einem Unfall. Einradschiebkarren und Lastenträger zu Hunderten auch auf der Großstadtstraße. Autos in Doppelströmen rechts und links. Überholen und Einbiegen in rasendem Tempo. Dazwischen klappernde Straßenbahnen und ihr Geklingel. Quietschende Bremsen bei jeder Querstraße, wenn plötzlich das rote Licht aufleuchtet. Geschrei der Rikschakulis, die sich zwischen den wartenden Autos nach vorn schlängeln. Das Hä ho, Hä ho der Lastenträger dazwischen. Immer größer wird die Helligkeit der Lichtreklame, je näher sie dem Stadtzentrum kommen. Kaufhäuser, Restaurants, Kinos, Theater. Die Ecke Tschekiang Road/Nanking Road ist ein Teufelsspuk von Licht, Lärm und Leben. Der Pferderennplatz mitten in der Stadt liegt wie eine dunkle Oase des Schweigens mitten in diesem Getümmel. Aber das Auge kriegt auch hier keine Ruhe. Die Hochhäuser rundum sind voll unruhiger Lichtreklame. Blau und gelb, rot, lila und grün blitzt es abwechselnd auf, und Lichtschriftzeichen wechseln ohne Ende.

Im Hause Wangs

An der Avenue Road, einer etwas ruhigeren Seitenstraße der Internationalen Niederlassung, haben die Wangs ein zweistöckiges europäisches Haus mitten in einem großen Garten. Von der Straße sieht man nur eine fast doppelt mannshohe graue Steinmauer und ein ebenso hohes schmiedeeisernes Tor. Vergoldete Drachen beiderseits der Torlaterne und buddhistische

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