Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

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Seite 19

Im Seeräuberdorf

Jetzt übertönt ein Ruf des Bandenführers den Motorenlärm. "Lauda, haula!" - "Bootsführer, anhalten", übersetzt Wang. Das Boot legt an. Die Jungen werden an Land geführt. Tom erkennt unter seiner Binde den schmalen Steg. Es riecht nach Seetang, Fischernetzen und Opiumrauch. Hunde kläffen. Einer jault auf. Jemand wird einen Stein auf ihn geworfen haben. "Versucht nicht, eure Binden zu lockern!" warnt sie der englischsprechende Anführer, "in einigen Minuten werde ich sie euch selbst abnehmen." Tom wird auf einen Sitz gedrückt, dann angehoben. Er greift unwillkürlich nach einem Halt. Seine Finger umklammern eine Bambuslehne. Dann bewegt sich der Sitz rhythmisch schwingend vorwärts. Ein komisches Gefühl! So ähnlich war es, als Tom in Berlin im Hippodrom zum erstenmal auf einem Pferderücken saß. "Aha", denkt er, "eine Sänfte!" Schon stimmen die Träger ihr Traberlied an. "Hä, ho, hä, ho, hä, ho..." Dazwischen knarren die Bambusstangen, an denen sein Stuhl getragen wird. "Nicht übel", denkt Tom, aber plötzlich hat er das Gefühl, in einer Luftschaukel zu sitzen. "Wang!!" schreit er. Als Wang antwortet, ist alles wieder gut. Eine Weile später hört das rhythmische Schwingen ruckartig auf. Toms Füße stehen wieder auf festem Boden. Seine Augenbinde ist naß von Schweiß. Lautes Rufen und Klopfen an einem Tor, das sich knarrend öffnet. Tom. wird hineingeführt. Wieder Knarren und das Bumsen eines schweren Riegels. Unter seinem Tropenhelm wird es Tom unerträglich heiß. Er nimmt den Hut ab und fächelt sich damit Luft zu. Im selben Augenblick wird ihm auch die Binde abgenommen. Da ist Wang, Gott sei Dank! Auch er ist von seiner Binde befreit, auch er hat einen hochroten Kopf. Ein alter Chinese in grauem Ischang verbeugt sich tief vor ihnen.

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"Ich bin der Kaimendi, der Pförtner. Mein Gebieter heißt die jungen Herren herzlich willkommen. In einer Viertelstunde erwartet er die ehrenwerten Gäste im Empfangszimmer. Wollen Sie es sich bis dahin in unserem bescheidenen Gastzimmer bequem machen!" Er verbeugt sich wieder und geht nach dem Gastzimmer voran. Tom kommt aus dem Staunen nicht heraus. Das ist keine Räuberhöhle, sondern eine neue Art von Märchenschloß, ein Märchengarten mit Wohnzimmern ringsum.

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Orangenbäume mit Blüten und goldgelben Früchten im Außenhof - ein sechseckiges Tor -, dann die Blütenpracht des Innenhofes, blühende Bäume, Palmen, Ziersträucher in kostbaren Steintöpfen, Lotosblüten auf einem Goldfischteich, grünglasierte Dachziegel über roten Säulen, goldene chinesische Schriftzeichen über allen Eingangstüren. Für Wang ist das alles nichts Neues. Ganz ähnlich ist das Haus seiner Väter in Kanton, in dem jetzt sein Onkel wohnt. Ähnlich sehen die Wohnanlagen aller reichen Chinesen aus. Im Gastzimmer, gleich links am Innenhof, stehen ihre Koffer vor diwanartigen Ruhelagern. Auf der roten Marmorplatte des Ebenholztisches prangt eine kostbare gelbe Vase. Der Wohlgeruch von Blüten erfüllt das Zimmer. Der Pförtner klatscht in die Hände und ruft "Lo!" Darauf erscheint ein Diener und bringt ihnen duftende heiße Handtücher zum Waschen. Als die heiße Feuchtigkeit auf ihrer Haut trocknet, empfinden sie eine angenehme Kühle. Die Türen aller Räume am Innenhof stehen offen, gegenüber sind Schreib= und Arbeitszimmer. "In diesem Gefängnis werde ich es schon einige Tage aushalten", sagt Tom zu Wang. Am meisten interessiert ihn die geschlossene große Tür gegenüber dem sechseckigen Durchgang. "Das ist die Ahnenhalle der Familie. Dahinter ist der Hinterhof mit Küche und ..." In diesem Augenblick kommt der Hausherr, der Bandenführer, mit einem himmelblauen Ischang angetan, aus der Tür der Ahnenhalle. Seine Augen sind von einer großen Hornbrille mit dunklen Gläsern verdeckt, aber sein Mund lächelt freundlich. "Ich hoffe, daß ihr euch in meinem armseligen Haus wohl fühlt", sagt er, wie es die chinesische Sitte vorschreibt. Er bittet sie, in das Empfangszimmer einzutreten. Hier stehen um einen großen runden Ebenholztisch ein halbes Dutzend Hocker, wie Tom sie noch nie gesehen hat: blaue Porzellantonnen mit Drachenmustern. Er setzt sich nur zögernd darauf nieder, empfindet aber bald die angenehme Kühle auf dem Sitz.

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