Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

=========================================

Seite 09.

Quer durch die Sitzreihen führen fünf breite Gänge und der Abstand zwischen den Sitzreihen ist so groß, daß Eßwarenhändler mit ihren dampfenden tragbaren Garküchen dazwischen herumspazieren können. Sie verwehren niemandem die Sicht auf die Bühne, weil jede vordere Sitzreihe - ähnlich wie im Zirkus - etwas tiefer aufgestellt ist und die Bühne selbst sehr hoch liegt. Zwischen Bühne und Zuschauerraum gibt es keinen Vorhang. Bühnenaufbau und Umbau gehen vor den Augen aller Zuschauer vor sich. Oft kleiden sich die Schauspieler sogar auf offener Bühne um. Die Musiker sitzen seitwärts oben auf der Bühne. Sie rekeln sich auf ihren Sitzen, wenn sie müde sind, und trinken zwischendurch ihren Tee, gerade so wie die Zuschauer. Zur Erfrischung waschen sie sich auch ab und zu, gleichfalls wie die Zuschauer. Dafür werden von Waschmännern, die mit dampfenden Kübeln durch die Reihen gehen, heiße, nasse Handtücher gereicht. Als Wang und Tom am Mittelgang zwei gute Plätze gefunden haben, erhebt sich im Zuschauerraum ein ohrenbetäubender Lärm.

.

Wie der Ruf "Tor!" in einem Fußballstadion braust es auf "Hao!" - "Hao!" Das heißt "Gut!" - "Gut". Mit dem Gedröhn der Pauken und dem Gebell der Schellen ist der Tigergeneral auf die Bühne getreten. Und dann ist atemlose Stille! Der Tigergeneral! Da steht er, wie ein zum Sprung bereiter Tiger. Sein Gesicht ist wie das Fell eines Tigers gestreift, schwarz und weiß, aber auch rot und blau. Die Schlitzaugen sind in den Gesichtsstreifen kaum zu erkennen. Ein breiter schwarzer Vollbart hängt bis über die Hüften hinab. Sein Gewand ist ein Krieger=Ischang, rot, schwarz und golden getigert. Auf dem Kopf trägt er eine Sonnenhaube mit einem Dutzend runder, goldener Spiegel, die bei jeder Bewegung das Licht aufblitzen lassen. Aber er verharrt jetzt ganz still. Wie ein Tiger vorm Sprung. Kinder schreien auf. Unheimlich! Ganz leicht nur zucken die kleinen Finger seiner Hände. Die eine streicht den Bart, die andere liegt an der Lanze. Dann schiebt er seinen linken, dick mit Filz besohlten Fuß drohend vor und wirft ruckartig seine Hüften halb herum. Vier auf seinen Rücken wie Flügel befestigte Fahnen erzittern. Nun schreitet er mit langsamen, gesetzten Schritten hin und her. Die Schellen bellen wieder. Die Schlaghölzer trommeln wild. Wang kann Tom, ohne einen Zuschauer zu stören, laut die Geschichte erzählen. "Der Tigergeneral ist ein Gefolgsmann des Verrätergenerals Li. Dieser hat den Mingkaiser Tschung in den Tod getrieben. Auf dem Kohlenhügel in Peking hat sich der Kaiser erhängt. Prinzessin Feh, die Geliebte des Kaisers, aber hat dem Verräter Li Rache geschworen. Sie begibt sich in seine Gewalt und hofft auf eine Gelegenheit, Li zu ermorden. Doch Li ahnt Böses, und er beschließt, Feh mit dem furchtlosen Tigergeneral zu vermählen..." Wang hält inne im Erzählen. Süße Töne der Bambusflöte künden das Nahen der Prinzessin Feh an. In prächtigen Gewändern treten drei Frauen vor den Tigergeneral hin: Feh und die beiden Kammerzofen, die der Verrätergeneral Li ihr beigegeben hat.

.

Sie sind wie die Stimmen von Meisen, traurige und verführerische Lieder. Der Tigergeneral ist von den Reizen der Prinzessin überwältigt. Er läßt sich von ihrer zarten Hand ein Glas Reiswein nach dem andern einschenken. Sie plaudern und scherzen, und als er vom Wein schon berauscht ist, bittet sie ihn, doch sein Schwert und die Lanze abzulegen und den schweren Panzer, den er unter dem Tiger-Ischang trägt. Er gesteht ihr, daß er im Kampfe eine gefährliche Wunde am Arm davongetragen hat. Feh bittet ihn mit ihrer zarten Meisenstimme, seine Wunde pflegen zu dürfen. Er willigt ein, und wie ein Lamm läßt sich der berauschte Tiger von den Zofen zu Bett bringen. Als es Nacht ist, löscht Prinzessin Feh die Kerzen aus und stößt ihm den Dolch in die Brust, den sie in dem weiten Ärmel ihres Ischangs verborgen gehalten hat. Er springt auf und versucht, sein Schwert zu ergreifen. Im Dunkeln gibt es ein wildes Kampfgetümmel zwischen den beiden, bis er - durch das eigene Schwert geschlagen - sein Leben verröchelt. Die Kammerzofen eilen herbei und klagen Feh des ruchlosen Mordes an. Sie sieht ein, daß sie unrecht gehandelt hat, und gibt sich selbst den Tod.

.

   Bildrückseite 6

   Bildrückseite 7